Ottokar Luban: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept. Ihre Kritik an Lenin und ihr politisches Wirken 1913-1919.
Rezension von Ralf Hoffrogge
Wer sich mit der Geschichte des Spartakusbundes und seiner bekanntesten Vertreterin Rosa Luxemburg auseinandersetzt, kommt um die Forschungen Ottokar Lubans nicht herum.
Umso erfreulicher ist es, dass nun verschiedene, vorher nur verstreut vorliegende Aufsätze aus den letzten Jahren endlich einem Band versammelt wurden. Dabei handelt es sich durchweg um korrigierte, teilweise auch inhaltlich erweiterte Versionen.
Den Anfang des Sammelbandes bilden zwei Essays zu Luxemburgs Partei- und Demokratiekonzept und zu ihrer Kritik an Lenin, in denen Luban die demokratische Sozialistin Luxemburg gegen neuere Kritiker verteidigt. Diese sähen Luxemburg gerne wieder wie zu den Hochzeiten des kalten Krieges als Vertreterin eines "totalitären" oder diktatorischen Politikkonzeptes vom politischen Diskurs ausgegrenzt. Wie salonfähig derartige Ansichten sind, zeigte ein Interview des sozialdemokratischen Historikers Hans-Ulrich Wehler. Dieser verteidigte am 15. Januar 2009 im Deutschlandfunk die Ermordung der Revolutionärin. Rosa Luxemburg sei selbst schuld an ihrem Tod, denn sie habe für Deutschland den Bürgerkrieg geplant: "Wer den Bürgerkrieg entfesselt, lebt immer im Angesicht des Todes".
Trotz der Wichtigkeit, solch skandalösen Zerrbildern mit solidem Faktenwissen entgegenzutreten, liegt der eigentliche Reiz der vorliegenden Aufsatzsammlung nicht in erster Linie in einer politischen Verteidigung Luxemburgs. Ottokar Luban nähert sich seiner Protagonistin als Historiker. Im Vordergrund steht vor allem ihr organisatorisches und politisches Wirken in der Zeit von Weltkrieg und Revolution. Obwohl so die ökonomische Theorie und auch die Imperialismusanalysen Luxemburgs außen vor bleiben, ist diese Perspektive jedoch alles andere als defizitär. Denn Luban versteht es, in akribischer Detailarbeit Zusammenhänge aufzudecken, die bisher in der Forschung unbekannt waren. Er stützt sich dabei auf reichhaltiges, neu erschlossenes Archivmaterial, das er in Archiven von Kalifornien bis Moskau in jahrelanger Forschungsarbeit zusammengesucht hat. Das so gewonnene Wissen ist nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern auch und gerade in der politischen oder erinnerungspolitischen Debatte von großer Relevanz.
Einer dieser bisher kaum bekannten Zusammenhänge ist etwa die Unterstützung und Finanzierung der Spartakusgruppe durch linkspazifistische Kreise des Berliner Bürgertums, die Luban am Beispiel des Druckereibesitzers Julius Gerson und des Kunsthistorikers Eduard Fuchs aufzeigt. Die Revolution in Dahlemer Villen - eine Konstellation, bei der man wohl eher an die Zeit Rudi Dutschkes und die Liegenschaften der Freien Universität Berlin im bürgerlichen Südwesten Berlins denkt, kaum aber an die Jahre des Ersten Weltkrieges. Noch spannender ist Lubans Beschreibung des Wechselverhältnisses von Spartakusgruppe und den "Revolutionären Obleuten" um den Dreher Richard Müller. In bisher selten dagewesener Detailtreue analysiert Luban die Aktionen beider Gruppen während des ersten Weltkrieges und weist nach, dass es vor allem die Untergrundbewegung der Revolutionären Obleute war, die das organisatorische Rückgrat von Massenstreikbewegung und Revolution bildete. In einem von Luban zitierten Schreiben Paul Levis an Rosa Luxemburg gibt Paul Levi als Mitglied der Führung des Spartakus offen zu, dass der Gruppe "jeder Mechanismus fehlt, der selbständig Massen in Bewegung setzen könnte" (S. 164). Gerade das Zusammenwirken der politisch-theoretisch geschulten Spartakusgruppe wie auch der linken USPD-Führer Ernst Däumig und Georg Ledebour mit dem in den Fabriken verankerten Netzwerk der Obleute trug wesentlich zum Gelingen des revolutionären Massenaufstandes in Berlin am 9. November 1918 bei. Luban gibt damit eine neue und erfreulich differenzierte Einschätzung der Spartakusgruppe.
Auch für Nichthistoriker und alle eher am "großen Ganzen" interessierten Leser und Leserinnen ist diese Einschätzung spannend, rückt sie doch jahrzehntelange Fehlwahrnehmungen von der Spartakusgruppe als Haupt- oder gar Alleinorganisatorin der Novemberrevolution zurecht. Sie tut dies jedoch, ohne ihr Verdienst im Antikriegswiderstand zu schmälern oder aber den eingangs erwähnten Tendenzen zur Abwertung oder gar Dämonisierung Luxemburgs und ihrer Gruppe Material zu liefern.
Ottokar Luban stellt auch das Umfeld und die Basis der Spartakusgruppe dar, ihre Unterstützerinnen und Bündnispartner, Sympathisanten und einfachen Mitglieder. Dabei gerät ein breites Spektrum von Personen in den Blick, seien es nun wohlhabende linksbürgerliche Pazifisten, rebellische Metallarbeiter oder Hausfrauen und Krankenkassenangestellte. In einer eigenen Untersuchung zu "Führung und Basis des Rosa-Luxemburg-Karl-Liebknecht-Kreises" (S. 172-196) widmet sich Luban explizit dem Berliner Mitgliederkreis der Spartakusgruppe und deckt auf, wie eine relativ kleine Gruppe unter Leitung des in der Konspiration erfahrenen Spartakusführers Leo Jogiches mit immensem Organisationsgeschick eine erstaunlich umfangreiche und einflussreiche Flugblattagitation aufrechterhielt. Entgegen dem vorherrschenden Klischee einer von jugendlichem Radikalismus geprägten Gruppenkultur weist Luban nach, dass die Berliner Mitglieder und Anführer des Spartakus überwiegend langjährige Organisationserfahrung in der Sozialdemokratie besaßen und trotz ihrer Minderheitenposition fest in der lokalen Arbeiterbewegung verwurzelt waren.
Luban nähert sich nicht nur der Spartakusgruppe, sondern auch der Person Rosa Luxemburg insgesamt unbefangen, mit großem Verständnis, aber auch mit Kritik. Er scheut sich nicht, sie im Zusammenhang mit den Januarkämpfen 1919 auch einmal als "ratlose Rosa" zu porträtieren (S. 67) und zieht überall eine realistische Analyse der Politikerin Luxemburg der Ikone Luxemburg vor. Dies bedeutet, auch die Verzerrung des Luxemburg-Bildes durch die SED offenzulegen. Diese hob Luxemburg als Galionsfigur empor, distanzierte sich jedoch von ihrem politischen Erbe und befand sich vor allem in offenem Widerspruch zu Luxemburgs Konzeption einer sozialistischen Demokratie. Luban widmet diesem Thema einen eigenen Aufsatz, der jedoch leider mit acht Seiten recht kurz ausfällt.
Insgesamt beeindruckt die vorliegende Sammlung durch die gelungene Kombination von faktenreicher Präzision und weitsichtigem Blick auf größere Zusammenhänge, ihr ist eine weite Verbreitung zu wünschen.
Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept.Ihre Kritik an Lenin und ihr politisches Wirken 1913-1919. GNN-Verlag Sachsen, Berlin 2008, 316 Seiten, broschiert, 14,50 Euro.